Cancel Culture im 16. Jahrhundert – Wenn die Volksgunst kippt

5. Mai 2025

Elisabeth und die Rolle des Volkes
In den letzten Wochen haben wir im Unterricht das Drama Maria Stuart von Friedrich Schiller gelesen und besprochen. In diesem Drama geht es um einen politischen Machtkampf zwischen zwei Königinnen im England des 16. Jahrhunderts. Maria Stuart, Königin von Schottland, und Elisabeth I., Königin von England, erheben beide – basierend auf unterschiedlichen Legitimationen – Anspruch auf den englischen Thron. Maria beruft sich dabei auf die Thronfolge: Da Elisabeth aus einer vom Papst nicht anerkannten Ehe stammt und somit als „Bastard“ gilt, wäre sie nach traditionellem Verständnis nicht die rechtmäßige Nachfolgerin ihres Vaters. Elisabeth dagegen legitimiert ihre Herrschaft durch die Konfession: Das englische Volk ist überwiegend protestantisch und würde sich vor einer Rückkehr des Katholizismus unter Marias Herrschaft fürchten.

Beide Königinnen werden von verschiedenen Interessengruppen wie Schachfiguren in einem politisch-religiösen Machtspiel eingesetzt: Elisabeth wird von den protestantischen Lords Englands unterstützt, während Maria durch ihre charismatische und sinnliche Ausstrahlung Macht über ihr nahes Umfeld ausübt, das ihr treu ergeben ist.

Maria musste infolge einer Verschwörung aus Schottland fliehen und suchte in England bei ihrer Großcousine Elisabeth I. Zuflucht. Diese jedoch fühlte sich durch Marias potenziellen Anspruch auf den englischen Thron bedroht und ließ sie inhaftieren. Im weiteren Verlauf der Handlung ringt Elisabeth mit der Frage, ob sie Maria hinrichten lassen soll oder nicht. Ihre Macht stützt sich zu einem großen Teil auf die Gunst des Volkes, und sie fürchtet, die öffentliche Meinung könnte sich gegen sie wenden, falls Maria hingerichtet würde.

Nach längerer Bedenkzeit erinnert sich Elisabeth schließlich an die Demütigung, die sie beim Aufeinandertreffen mit Maria empfand, und an Marias spöttisches Verhalten. Schließlich unterschreibt sie das Todesurteil – trotz möglicher Konsequenzen. Elisabeth befindet sich also in einer schwierigen Lage: Sie möchte gerecht und unabhängig als Königin handeln können, muss sich aber gleichzeitig dem Willen jener Kräfte fügen, die ihren Machtanspruch überhaupt erst ermöglichen – in ihrem Fall die öffentliche Meinung und die protestantischen Lords. Was würde passieren, wenn Elisabeth in die Ungnade des Volkes fiele? Und wie würde sie in jener Zeit „gecancelt“ werden?


Lady Jane Grey -- im erweiterten Sinne ein historisches Opfer von "Cancel Culture"

Cancel Culture im 16. Jahrhundert
Der Begriff Cancel Culture bezeichnet ein kulturelles Phänomen, bei dem Personen ausgegrenzt und gesellschaftlich geächtet werden, weil sie etwas als inakzeptabel Empfundenes gesagt oder getan haben. Dieses „Cancelling“ findet heute meist im Internet statt und richtet sich vor allem gegen prominente Persönlichkeiten. Konkret bedeutet das: Die betreffende Person sieht sich einem öffentlichen Shitstorm ausgesetzt, wird moralisch verurteilt und boykottiert – ihr Ruf nimmt langfristigen Schaden.

Elisabeth befindet sich in einer Situation, in der sie auf die Gunst des Volkes angewiesen ist, um ihre Herrschaft zu legitimieren. Das englische Volk fürchtet sich vor dem Katholizismus und unterstützt daher die protestantische Königin Elisabeth im politischen Machtkampf mit Maria. Wenn Elisabeth jedoch einen möglichen Fehler begeht – etwa die Unterzeichnung des Todesurteils für Maria – könnte sie im Volk das Image einer blutrünstigen Königsmörderin bekommen und ihren Machtanspruch verlieren, also „gecancelt“ werden.

Elisabeth und das Volk stehen somit in einem ambivalenten Verhältnis zueinander: Einerseits regiert sie über das Volk, andererseits ist es das Volk, das ihre Herrschaft überhaupt erst ermöglicht. Sollte sie ihre Machtbasis verlieren, könnte sie vom eigenen Volk und den ihr ergebenen Kreisen als illegitim erklärt werden. Eine mögliche Folge wäre der Ausschluss aus der protestantischen Kirche – also der Verlust ihrer göttlichen Legitimation. Ebenso wären Verschwörungen am Hof oder Aufstände bei öffentlichen Auftritten denkbar. Letztlich könnte dies zur Absetzung und – wie damals nicht unüblich – zur Hinrichtung führen.